Wohlbehütet und Wohlauf

23.03 → 21.08.2016
Vue de l'exposition Sains et saufs
Überwachung und Schutz im 21. Jahrhundert

Die Lita­nei an Infor­ma­ti­o­nen, die unsere Sicher­heit gewähr­leis­ten sollen, ist so umfang­reich, dass wir kaum noch darauf achten. Doch was steckt hinter der Einfüh­rung dieser Maßnah­men und Objekte? Die Abschot­tung gegen bestimmte begrün­dete oder unbe­grün­dete Ängste? Der Wunsch nach lücken­lo­ser Kontrolle? Eine Erwar­tung der Verbrau­cher? Ein Vorwand für riskan­tes Verhal­ten? Weshalb widmen wir heut­zu­tage der Sicher­heit so viel Ener­gie?

Weshalb erhe­ben manche Staa­ten die Sicher­heit beinahe zum poli­ti­schen Bekennt­nis? Abso­lute Sicher­heit, Vermei­dung von Zufäl­len und der Anspruch, alles im Griff zu haben, sind mitt­ler­weile zur Norm gewor­den und stehen gewis­ser­ma­ßen für die Leug­nung des Todes, die für unsere Gesell­schaft charak­te­ris­tisch ist.

Die Ausstel­lung Wohl­be­hü­tet und wohl­auf versteht sich als zeit­ge­nös­si­sche Bestands­auf­nahme dieser Phäno­mene, indem sie Alltags­ge­gen­stände und Werke aus Design, Foto­gra­fie und Kunst der Gegen­wart in sich vereint. Vier mitein­an­der verwandte Themen bilden den roten Faden und dien­ten bei der Auswahl der Expo­nate als Schlüs­sel­be­griffe: Sicher­heit, Angst, Schutz und Über­wa­chung. Dabei wird von der Über­zeu­gung ausge­gan­gen, dass diese Begriffe untrenn­bar mitein­an­der verbun­den sind, sowohl in der mensch­li­chen Psyche als auch in ihrem Stel­len­wert in der Gesell­schaft.
Manche Projekte zeigen Desi­gnlö­sun­gen für sehr konkrete Probleme, wie z. B. der Airbag für Radfah­rer von Anna Haupt und Terese Alstin, der sich bei einem Aufprall öffnet, oder der 1$-Anzei­ger, der hilft, Javel­was­ser rich­tig in einem Eimer Wasser aufzu­lö­sen, um ein wirk­sa­mes Desin­fek­ti­ons­mit­tel zu erhal­ten. Der erdbe­ben­si­chere Tisch von Arthur Brut­ter & Ido Bruno bietet bei Erdbe­ben einen siche­ren Unter­schlupf, in dem zwei Schü­ler Platz haben, und der selbst sehr schwe­ren herab­stür­zen­den Trüm­mern stand­hält.
Andere Künst­ler und Desi­g­ner bedie­nen sich im Gegen­satz dazu lieber der Verfrem­dung, um auf humor­volle Weise die Absur­di­tät mancher Sicher­heits- und Kontroll­vor­stel­lun­gen aufzu­zei­gen. Der erdbe­ben­si­chere Tisch, ein Gemein­schafts­pro­jekt der ECAL und des Desi­g­ners Martino D’Es­po­sito ist eine parodis­ti­sche Vari­a­nte dieses Gegen­stan­des und enthält alle Elemente, die der Schwei­zer zum Über­le­ben braucht: einen Melk­sche­mel, einen Fondu­e­topf, Würst­chen, eine Flasche Henniez-Wasser. Selbst­ver­ständ­lich darf auch die Mili­tär­de­cke nicht fehlen, und eine nicht-jugend­freie Zeit­schrift vertreibt die Lange­weile. Als Anspie­lung auf Welt­un­ter­gangs­fa­na­ti­ker, die unab­läs­sig daran arbei­ten, ihre Umge­bung für kommende Kata­s­tro­phen zu wapp­nen, entwirft das Duo SUPER­LIFE Gegen­stände mit alter­na­ti­vem Verwen­dungs­zweck, die uns helfen, auf plötz­lich eintre­tende Bedro­hun­gen jeder Art zu reagie­ren, wie z. B. der einfa­che Stif­t­ehal­ter, der sich in einen Atem­fil­ter umwan­deln lässt.

Andere Projekte enthül­len die ganze Ambi­va­lenz unse­res Verhält­nis­ses zur Sicher­heit und spie­len mit dem Unbe­ha­gen, das sie hervor­ruft, wie z. B. die beein­dru­ckende Konstruk­tion Fences der Desi­g­ne­rin Dejana Kabiljo, ein einge­zäun­tes Bett, das Zuflucht bietet, aber dennoch beklem­mend wirkt. Happy­life, ein Haus­halts­ge­rät von James Auger, Reyer Zwig­ge­laar und Bashar Al Rajoub, bietet die Möglich­keit, die Stim­mung der Fami­li­en­mit­glie­der zu ermit­teln, um ihnen die Kommu­ni­ka­tion zu erleich­tern, während sie aller­dings eine stän­dige Unter­su­chung und Auswer­tung durch das Gerät über sich erge­hen lassen müssen.
Zahl­rei­che Desi­g­ner und Künst­ler üben deut­li­che Kritik daran, dass Menschen in ihrer Lebens­si­tua­tion und bei ihrem Handeln beob­ach­tet und kontrol­liert werden, insbe­son­dere im öffent­li­chen Raum. Nils Norman stellt sein Projekt The Urba­no­mics Archive vor, eine Archivsamm­lung, die im Jahr 1995 aufge­nom­men wurde und die Gegen­stände aus dem Stadt­le­ben, die dazu dienen, das Verhal­ten der Menschen zu kontrol­lie­ren, kata­lo­gi­siert: Bänke ohne Liege­flä­che oder Anti-Home­less-Spikes, Geschwin­dig­keits­puf­fer, Über­wa­chungs­ka­me­ras, urin- oder graf­fi­ti­ab­wei­sende Haus­wände usw. Ruben Pater und The Paglen befas­sen sich beide mit Metho­den zur Iden­ti­fi­zie­rung der von oben kommen­den Bedro­hun­gen. Der erste ist der Urhe­ber eines Posters, das alle Arten von Droh­nen erfasst, um den Zivi­lis­ten in den Einsatz­ge­bie­ten die Möglich­keit zu bieten, sie zu erken­nen und sich besser vor ihnen zu schüt­zen. Der zweite verfolgt und foto­gra­fiert als Foto­graf und Geograf mithilfe von Daten, die von einem umfang­rei­chen inter­na­ti­o­na­len Netz­werk aus Laien zusam­men getra­gen wurden, geheime Satel­li­ten in der Erdum­lauf­bahn.

Seit jeher hat die – archai­sche, intu­i­tive, kollek­tive – Angst das Verhal­ten des Menschen beein­flusst, was sich sowohl zu seinem Vorteil als auch seinem Nach­teil auswirkte. Einer­seits hat sie zum Über­le­ben der Art beige­tra­gen, anfangs durch die Entwick­lung natür­li­cher Reflexe, später durch die Erfin­dung verschie­de­ner Schutz­vor­rich­tun­gen. Doch ande­rer­seits hat sie Ächtung, Ausgren­zung, Verur­tei­lung und Über­be­hü­tung hervor­ge­bracht. Heut­zu­tage befin­det sich die Angst gemein­sam mit dem Risi­ko­be­griff auf dem Vormarsch. Gefah­ren­vor­sorge nimmt im alltäg­li­chen Leben einen zentra­len Stel­len­wert ein. Das Ergrei­fen von Schutz­maß­nah­men wird allmäh­lich zur Bürger­pflicht, und Über­wa­chung wird tole­riert, weil sie als vorteil­haft für unsere Sicher­heit betrach­tet wird. Das städ­ti­sche Umfeld und die häus­li­che Umge­bung sind erfüllt von Gegen­stän­den, die unsere Sicher­heit gewähr­leis­ten sollen. Über­wa­chung, Schutz, Sicher­heit und Risi­ko­prä­ven­tion werden sowohl von Poli­ti­kern als auch von Privat­per­so­nen vorran­gig behan­delt. Bereits ein flüch­ti­ger Vergleich unse­rer über­be­hü­te­ten Gesell­schaft mit den Lebens­be­din­gun­gen der benach­tei­lig­ten Bevöl­ke­run­gen des Erdballs enthüllt eine so gewal­tige Ungleich­be­hand­lung, dass sich die Frage aufdrängt, ob Schutz ein Menschen­recht oder Luxus ist.
Die Expo­nate bilden gemein­sam ein aufschluss­rei­ches Panorama dieser untrenn­bar mitein­an­der verbun­de­nen Heraus­for­de­run­gen und ihrer Allge­gen­wart im tägli­chen Leben, unab­hän­gig davon, ob es sich um unschein­bare Alltags­ge­gen­stände oder um Neuschöp­fun­gen von Künst­lern und Desi­g­nern mit einer klaren Botschaft handelt.

Die Ausstel­lung wird von einem Kata­log beglei­tet, der vom Mudac in Zusam­me­n­a­r­beit mit Les Éditi­ons Info­lio heraus­ge­ge­ben wurde und die Expo­nate sowie die Texte von Claire Favre Maxwell, stell­ver­tre­tende Direk­to­rin des Mudac und Kommis­sa­rin der Ausstel­lung, von David Le Breton, Profes­sor der Sozio­lo­gie an der Univer­si­tät Straß­burg und Claus Gunti, Kunst­his­to­ri­ker, Lehr­be­auf­trag­ter und Forscher an der Unil, der EPFL und der ECAL, bein­hal­tet.

<strong>Desi­g­ners und Künst­ler:</strong> <a href="http://www.auger-loizeau.com/">James Auger &amp; Jimmy Loizeau</a>, Alan Murray &amp; Reyer Zwig­ge­laar &amp; Bashar Al Rajoub, Claude Baechtold, <a href="https://josh­be­gley.com/">Josh Begley</a>, <a href="http://short­term­me­mo­ry­loss.com/">James Bridle</a>, Ido Bruno &amp; Arthur Brut­ter, <a href="http://www.a-bureau.com/">Bureau A: Daniel Zama­r­bide &amp; Leopold Banchini</a>, <a href="http://www.non-violence.ch/">Centre Martin Luther King Lausanne</a>, <a href="http://www.dainese.com/">Dainese</a>, Timo­thé Deschamps &amp; Paolo Gnazzo / <a href="https://www.hesge.ch/head/">HEAD–­Genève</a>, <a href="http://www.dunne­an­draby.co.uk">Anthony Dunne &amp; Fiona Raby</a>, <a href="http://www.ecal.ch">ECAL</a>/Martino D’Es­po­sito, <a href="http://www.empo­w­er­ment­plan.org">The Empo­w­er­ment Plan</a>, <a href="http://ying­gao.ca/">Ying Gao</a>, <a href="http://shil­pa­gupta.com/">Shilpa Gupta</a>, <a href="http://www.mish­ka­hen­ner.com/">Mishka Henner</a>, <a href="http://www.hovding.com">Hövding Airbag</a>, <a href="http://www.humans­sin­ce1982.com/">Humans since 1982</a>, <a href="http://www.indus­tri­a­l­fa­ci­lity.co.uk/">Indus­trial Faci­lity: Sam Hecht &amp; Kim Colin, Forrest Jessee, Dejana &amp; Jasen Kabiljo</a>, <a href="http://www.onkar­ku­lar.com/">Onkar Kular</a> &amp; Inigo Minns, <a href="http://www.mathieu­le­han­neur.fr/">Mathieu Lehan­neur</a>, <a href="http://www.mamo­ris.me">Mamo­ris</a>, Bujar Marika, <a href="http://www.alber­to­meda.com/">Alberto Meda</a> &amp; <a href="http://gomez­paz.com/">Fran­cisco Gomez Paz</a>, <a href="http://www.chris­ti­en­mein­dertsma.com/">Chris­tien Mein­dertsma</a>, <a href="http://www.gaby­mel.com/">Gabriele Meldai­kyte</a>, <a href="http://simon­men­ner.com/">Simon Menner</a>, <a href="http://www.sebas­tien-mett­raux.ch/">Sébas­tien Mett­raux</a>, <a href="http://www.dismal­gar­den.com/">Nils Norman</a>, <a href="http://www.studio-orta.com">Studio Orta: Jorge &amp; Lucy Orta</a>, <a href="http://www.paglen.com/">Trevor Paglen</a>, Ruben Pater, Thomas Ruff, Daniel Ruggiero, <a href="http://leosel­vag­gio.com/">Leonardo Selvag­gio</a>, SEN.SE, <a href="http://ggsv.fr/">Studio GGSV: Stéphane Villard &amp; Gaëlle Gabil­let</a>, <a href="http://super­life.ch/">Super­life: Edrris Gaaloul &amp; Cyrille Verdon</a>, <a href="http://www.susa­na­soa­res.com">Susana Soares</a>, David Swann, <a href="http://www.julia­van­zan­ten.com/">Julia Veld­hui­j­zen van Zanten</a>

Surveillance Chandelier de Humans since 1982
L’Age du monde (Russie) de Mathieu Lehanneur
Urban Life Guard – Ambulatory Sleeping Linen de Lucy +Jorge Orta
Sans titre de Sébastien Mettraux
Spies watching Spies de Simon Menner
Poumon de SUPERLIFE design studio
Radar Roche (Collection Power Stones) de Studio GGSV