Wohlbehütet und Wohlauf
Die Litanei an Informationen, die unsere Sicherheit gewährleisten sollen, ist so umfangreich, dass wir kaum noch darauf achten. Doch was steckt hinter der Einführung dieser Maßnahmen und Objekte? Die Abschottung gegen bestimmte begründete oder unbegründete Ängste? Der Wunsch nach lückenloser Kontrolle? Eine Erwartung der Verbraucher? Ein Vorwand für riskantes Verhalten? Weshalb widmen wir heutzutage der Sicherheit so viel Energie?
Weshalb erheben manche Staaten die Sicherheit beinahe zum politischen Bekenntnis? Absolute Sicherheit, Vermeidung von Zufällen und der Anspruch, alles im Griff zu haben, sind mittlerweile zur Norm geworden und stehen gewissermaßen für die Leugnung des Todes, die für unsere Gesellschaft charakteristisch ist.
Die Ausstellung Wohlbehütet und wohlauf versteht sich als zeitgenössische Bestandsaufnahme dieser Phänomene, indem sie Alltagsgegenstände und Werke aus Design, Fotografie und Kunst der Gegenwart in sich vereint. Vier miteinander verwandte Themen bilden den roten Faden und dienten bei der Auswahl der Exponate als Schlüsselbegriffe: Sicherheit, Angst, Schutz und Überwachung. Dabei wird von der Überzeugung ausgegangen, dass diese Begriffe untrennbar miteinander verbunden sind, sowohl in der menschlichen Psyche als auch in ihrem Stellenwert in der Gesellschaft.
Manche Projekte zeigen Designlösungen für sehr konkrete Probleme, wie z. B. der Airbag für Radfahrer von Anna Haupt und Terese Alstin, der sich bei einem Aufprall öffnet, oder der 1$-Anzeiger, der hilft, Javelwasser richtig in einem Eimer Wasser aufzulösen, um ein wirksames Desinfektionsmittel zu erhalten. Der erdbebensichere Tisch von Arthur Brutter & Ido Bruno bietet bei Erdbeben einen sicheren Unterschlupf, in dem zwei Schüler Platz haben, und der selbst sehr schweren herabstürzenden Trümmern standhält.
Andere Künstler und Designer bedienen sich im Gegensatz dazu lieber der Verfremdung, um auf humorvolle Weise die Absurdität mancher Sicherheits- und Kontrollvorstellungen aufzuzeigen. Der erdbebensichere Tisch, ein Gemeinschaftsprojekt der ECAL und des Designers Martino D’Esposito ist eine parodistische Variante dieses Gegenstandes und enthält alle Elemente, die der Schweizer zum Überleben braucht: einen Melkschemel, einen Fonduetopf, Würstchen, eine Flasche Henniez-Wasser. Selbstverständlich darf auch die Militärdecke nicht fehlen, und eine nicht-jugendfreie Zeitschrift vertreibt die Langeweile. Als Anspielung auf Weltuntergangsfanatiker, die unablässig daran arbeiten, ihre Umgebung für kommende Katastrophen zu wappnen, entwirft das Duo SUPERLIFE Gegenstände mit alternativem Verwendungszweck, die uns helfen, auf plötzlich eintretende Bedrohungen jeder Art zu reagieren, wie z. B. der einfache Stiftehalter, der sich in einen Atemfilter umwandeln lässt.
Andere Projekte enthüllen die ganze Ambivalenz unseres Verhältnisses zur Sicherheit und spielen mit dem Unbehagen, das sie hervorruft, wie z. B. die beeindruckende Konstruktion Fences der Designerin Dejana Kabiljo, ein eingezäuntes Bett, das Zuflucht bietet, aber dennoch beklemmend wirkt. Happylife, ein Haushaltsgerät von James Auger, Reyer Zwiggelaar und Bashar Al Rajoub, bietet die Möglichkeit, die Stimmung der Familienmitglieder zu ermitteln, um ihnen die Kommunikation zu erleichtern, während sie allerdings eine ständige Untersuchung und Auswertung durch das Gerät über sich ergehen lassen müssen.
Zahlreiche Designer und Künstler üben deutliche Kritik daran, dass Menschen in ihrer Lebenssituation und bei ihrem Handeln beobachtet und kontrolliert werden, insbesondere im öffentlichen Raum. Nils Norman stellt sein Projekt The Urbanomics Archive vor, eine Archivsammlung, die im Jahr 1995 aufgenommen wurde und die Gegenstände aus dem Stadtleben, die dazu dienen, das Verhalten der Menschen zu kontrollieren, katalogisiert: Bänke ohne Liegefläche oder Anti-Homeless-Spikes, Geschwindigkeitspuffer, Überwachungskameras, urin- oder graffitiabweisende Hauswände usw. Ruben Pater und The Paglen befassen sich beide mit Methoden zur Identifizierung der von oben kommenden Bedrohungen. Der erste ist der Urheber eines Posters, das alle Arten von Drohnen erfasst, um den Zivilisten in den Einsatzgebieten die Möglichkeit zu bieten, sie zu erkennen und sich besser vor ihnen zu schützen. Der zweite verfolgt und fotografiert als Fotograf und Geograf mithilfe von Daten, die von einem umfangreichen internationalen Netzwerk aus Laien zusammen getragen wurden, geheime Satelliten in der Erdumlaufbahn.
Seit jeher hat die – archaische, intuitive, kollektive – Angst das Verhalten des Menschen beeinflusst, was sich sowohl zu seinem Vorteil als auch seinem Nachteil auswirkte. Einerseits hat sie zum Überleben der Art beigetragen, anfangs durch die Entwicklung natürlicher Reflexe, später durch die Erfindung verschiedener Schutzvorrichtungen. Doch andererseits hat sie Ächtung, Ausgrenzung, Verurteilung und Überbehütung hervorgebracht. Heutzutage befindet sich die Angst gemeinsam mit dem Risikobegriff auf dem Vormarsch. Gefahrenvorsorge nimmt im alltäglichen Leben einen zentralen Stellenwert ein. Das Ergreifen von Schutzmaßnahmen wird allmählich zur Bürgerpflicht, und Überwachung wird toleriert, weil sie als vorteilhaft für unsere Sicherheit betrachtet wird. Das städtische Umfeld und die häusliche Umgebung sind erfüllt von Gegenständen, die unsere Sicherheit gewährleisten sollen. Überwachung, Schutz, Sicherheit und Risikoprävention werden sowohl von Politikern als auch von Privatpersonen vorrangig behandelt. Bereits ein flüchtiger Vergleich unserer überbehüteten Gesellschaft mit den Lebensbedingungen der benachteiligten Bevölkerungen des Erdballs enthüllt eine so gewaltige Ungleichbehandlung, dass sich die Frage aufdrängt, ob Schutz ein Menschenrecht oder Luxus ist.
Die Exponate bilden gemeinsam ein aufschlussreiches Panorama dieser untrennbar miteinander verbundenen Herausforderungen und ihrer Allgegenwart im täglichen Leben, unabhängig davon, ob es sich um unscheinbare Alltagsgegenstände oder um Neuschöpfungen von Künstlern und Designern mit einer klaren Botschaft handelt.
Die Ausstellung wird von einem Katalog begleitet, der vom Mudac in Zusammenarbeit mit Les Éditions Infolio herausgegeben wurde und die Exponate sowie die Texte von Claire Favre Maxwell, stellvertretende Direktorin des Mudac und Kommissarin der Ausstellung, von David Le Breton, Professor der Soziologie an der Universität Straßburg und Claus Gunti, Kunsthistoriker, Lehrbeauftragter und Forscher an der Unil, der EPFL und der ECAL, beinhaltet.
<strong>Designers und Künstler:</strong> <a href="http://www.auger-loizeau.com/">James Auger & Jimmy Loizeau</a>, Alan Murray & Reyer Zwiggelaar & Bashar Al Rajoub, Claude Baechtold, <a href="https://joshbegley.com/">Josh Begley</a>, <a href="http://shorttermmemoryloss.com/">James Bridle</a>, Ido Bruno & Arthur Brutter, <a href="http://www.a-bureau.com/">Bureau A: Daniel Zamarbide & Leopold Banchini</a>, <a href="http://www.non-violence.ch/">Centre Martin Luther King Lausanne</a>, <a href="http://www.dainese.com/">Dainese</a>, Timothé Deschamps & Paolo Gnazzo / <a href="https://www.hesge.ch/head/">HEAD–Genève</a>, <a href="http://www.dunneandraby.co.uk">Anthony Dunne & Fiona Raby</a>, <a href="http://www.ecal.ch">ECAL</a>/Martino D’Esposito, <a href="http://www.empowermentplan.org">The Empowerment Plan</a>, <a href="http://yinggao.ca/">Ying Gao</a>, <a href="http://shilpagupta.com/">Shilpa Gupta</a>, <a href="http://www.mishkahenner.com/">Mishka Henner</a>, <a href="http://www.hovding.com">Hövding Airbag</a>, <a href="http://www.humanssince1982.com/">Humans since 1982</a>, <a href="http://www.industrialfacility.co.uk/">Industrial Facility: Sam Hecht & Kim Colin, Forrest Jessee, Dejana & Jasen Kabiljo</a>, <a href="http://www.onkarkular.com/">Onkar Kular</a> & Inigo Minns, <a href="http://www.mathieulehanneur.fr/">Mathieu Lehanneur</a>, <a href="http://www.mamoris.me">Mamoris</a>, Bujar Marika, <a href="http://www.albertomeda.com/">Alberto Meda</a> & <a href="http://gomezpaz.com/">Francisco Gomez Paz</a>, <a href="http://www.christienmeindertsma.com/">Christien Meindertsma</a>, <a href="http://www.gabymel.com/">Gabriele Meldaikyte</a>, <a href="http://simonmenner.com/">Simon Menner</a>, <a href="http://www.sebastien-mettraux.ch/">Sébastien Mettraux</a>, <a href="http://www.dismalgarden.com/">Nils Norman</a>, <a href="http://www.studio-orta.com">Studio Orta: Jorge & Lucy Orta</a>, <a href="http://www.paglen.com/">Trevor Paglen</a>, Ruben Pater, Thomas Ruff, Daniel Ruggiero, <a href="http://leoselvaggio.com/">Leonardo Selvaggio</a>, SEN.SE, <a href="http://ggsv.fr/">Studio GGSV: Stéphane Villard & Gaëlle Gabillet</a>, <a href="http://superlife.ch/">Superlife: Edrris Gaaloul & Cyrille Verdon</a>, <a href="http://www.susanasoares.com">Susana Soares</a>, David Swann, <a href="http://www.juliavanzanten.com/">Julia Veldhuijzen van Zanten</a>